Der Tod is nicht systemrelevant.

Von Volker Schmidt
Die Auseinandersetzung mit dem Tod ist in unserer Erfolgs- und Leistungsgesellschaft schon zu einem subversiven Akt geworden. So gesehen ist klar, worin die politische Brisanz des Coronavirus liegt: Die Menschen könnten begreifen, dass man Sterblichkeit nicht wegkonsumieren kann.
(Erstdruck im SPECTRUM, Beilage der Tageszeitung DIE PRESSE am 11.7.2020. Ungekürzte Fassung.)
Was ist denn da in den letzten Monaten passiert? Wir blicken uns erschrocken um, wenn die Polizei kommt und überlegen, ob wir gerade irgendetwas Unerlaubtes tun. In Gesprächen mit Unbekannten tasten wir uns erst vorsichtig vor, um herauszufinden, wie der andere den zu der Sache steht, bevor wir es wagen, freimütig unsere Meinung zu äußern. Journalisten*innen hören auf, politische Entscheidungen zu hinterfragen und schreiben, was die Regierung wünscht. Intellektuelle und Künstler*innen schweigen, wenn unsere Grundrechte eingeschränkt werden. Überforderte Eltern wagen es nicht, ihre Kinder in den Kindergarten zu geben, obwohl sie das Recht hätten, doch plötzlich ist es sozial erwünschter, das Kind stundenlang vor dem Fernseher zu parken als mit anderen Kindern spielen zu lassen.
Durch die Corona-Krise hat sich das Koordinatensystem unserer Lebensweise fundamental verschoben. Angst und Verunsicherung, was denn eigentlich richtig ist und was falsch, sind exponentiell gewachsen. Doch die Erschütterung durch die Corona-Krise ist noch viel umfassenderer und grundlegender. Sie stellt unser Selbstbild als Mensch und unsere Gesellschaft infrage. Uns beschleicht mehr und mehr das Gefühl, dass wir die ganze Zeit mit falschen Zahlen operiert haben, dass unser westlicher konsumorientierter Lebensstil vielleicht auf der Lüge basiert, dass man eine Variable aus der Lebensgleichung herausschummeln könnte: den Tod. Wie aber konnten wir ihn bisher überhaupt so erfolgreich verstecken?
Der outgesourcte Tod
Im Prinzip haben wir den Tod immer in Kauf genommen. Es gehört zum Leben an sich, dass wir ständig Leben gegen Tod, Risiko gegen Sicherheit abwägen. Wir würden sonst keinen Sport betreiben, nicht reisen, forschen, auf alle Abenteuer verzichten. Wir würden nur zu Hause sitzen. Der Grad an Kontrollierbarkeit des Lebens und unser Sicherheitsbedürfnis sind aber in den letzten Jahrzehnten enorm gestiegen. Als Kind saß ich bei meiner Mutter ohne Helm auf dem Mopedrücksitz, sie hatte natürlich auch keinen auf. Heute trägt meine Tochter schon beim Tretrollerfahren einen Helm. Es gab Zeiten, da wurde auch im Krankenhaus noch geraucht und den Gurt im Auto hat kaum jemand verwendet. Und das ist auch alle noch nicht so lange her.
Wir wollen zwar ein Leben ohne Tod führen, da das aber nicht möglich ist, leugnen wir ihn auf unterschiedliche Art. Zum einen haben wir ihn erfolgreich an die Ränder unseres Wahrnehmungshorizontes outgesourct. Unsere politische, ökonomische und kulturelle Alltagsstruktur baut auf einer systematischen Ungleichheit auf. Doch die ausbeuterischen, ökologisch und sozial zerstörerischen Produktionsbedingungen für unseren Lifestyle gibt es dort, wo wir es nicht merken: im globalen Süden außerhalb unserer Wohlstandsgesellschaften. Orte der politischen Instabilität mit mangelnder sozialer Absicherung und Gesundheitsversorgung werden als Teil unserer imperialen Lebensweise in Kauf genommen. Die damit einhergehenden Kriege, Hungersnöte und Epidemien sind zwar schrecklich aber sie finden zum Glück nicht bei uns statt. Dass die Folgen des Klimawandels die globale Ungleichheit und die Katastrophen um ein Vielfaches verstärken werden, wird bisher auch erfolgreich verdrängt.
Aber auch in unseren Breiten werden die Opfer unserer Lebensweise in Kauf genommen. Die Europäische Umweltagentur hat für 2016 in Europa hat rund 400.000 vorzeitige Todesfälle allein in der EU berechnet, die durch die Luftbelastung durch Feinstaub, Stickstoffdioxid und bodennahes Ozon ums Leben kamen. Das sind Alte und Menschen mit Atemwegs- und Herzkreislauferkrankungen, die früher sterben als sie müssten. Doch die fragwürdigen Verlockungen einer fossil betriebenen Mobilität haben uns dazu gebracht, einen stillschweigenden Pakt mit der Industrie und Politik zu schließen, diese Toten zusammen mit den Verkehrstoten, dem Lärm und der Platzverdrängung in den Städten einfach zu ignorieren. Erst in den letzten Jahren hat man durch Fahrverbote in Städten angefangen, bei der Feinstaubbelastung gegenzusteuern.
In der Corona-Krise gilt plötzlich eine ganz andere Gewichtung von Risiko und Sicherheit. Wie aus einem langen Dämmerschlaf erwachend, werden wir auf explizite Art auf die Konsequenzen unseres Verhaltens von Politik und Medien hingewiesen. Und zwar von jenen, die uns bisher eher ermuntert haben, das Leid anderer bereitwillig in Kauf zu nehmen. Und wir wissen nicht: War die Katastrophe die ganze Zeit schon da, und blicken nur plötzlich genau hin? Oder stehen wir tatsächlich vor einer einzigartigen Wendung in der Geschichte der Menschheit. Entlang dieser beiden Einschätzungen werden gerade Millionen Gigabyte Meinungen in Onlineforen hin und her geschoben. Diejenigen, die bisher eher gleichgültig den Alten und Gebrechlichen in unserer Gesellschaft gegenüberstanden, zählen nun jeden Tag die Toten und verurteilen alle, die Todeszahlen nicht zur alleinigen Maxime ihres Handelns machen.
Das Problem ist, dass diese Fragen niemals abschließend beantwortet werden können. Unsere Wahrnehmung von Tod ist immer selektiv. Ein Kind, das in einen Brunnenschacht gestürzt ist, wird medial mehr Aufmerksamkeit erlangen als die Tausenden von Toten des jahrelangen Bürgerkriegs im Jemen. Es hat eher damit zu tun, welchen Bildern wir uns zuwenden und welche Art von Erzählung wir daraus schaffen. Erzählungen von Feinstaubtoten sind zu sperrig, um die Gesellschaft zu verändern. Bilder von überfüllten Krankenhäusern und sich stapelnden Särgen lösen hingegen maximale Betroffenheit aus.
Alle Macht der Macht
Ein weiterer Aspekt der grundlegenden Erschütterung liegt in dem Bild, das wir von unserer Gesellschaft haben. Die Erwartung an Wissenschaft, Medizin und Politik haben sich in den letzten hundert Jahren gewaltig verschoben. Wir leben seit Jahrzehnten im Westen in einer Blase der Sicherheit mit scheinbar hoher medizinischer Versorgung und politischer Stabilität, ohne einen Krieg, der uns unmittelbar betrifft. Gleichzeitig beschleicht uns das Gefühl, dass es damit bald vorbei sein könnte. Unsere Demokratien sind durch die gesellschaftliche Polarisierung in ernster Gefahr, die Gesundheitssysteme durch Privatisierung und Priorisierung der Wirtschaftlichkeit stark ausgehöhlt, Nationalismus und widerstreitende Machtinteressen haben den Krieg an die Ränder Europas herangetragen. In dieser Situation ergibt sich eine kognitive Dissonanz zwischen einem relativ hohen Lebensstandard und gefühlter Unsicherheit. Gleichzeitig gelingt das Auslagern von Ausbeutung und Leid auf andere Regionen der Erde aufgrund eines sich erhöhenden globalen Bewusstseins nur noch bedingt.
In diese Spannung der kognitiven Dissonanz platz plötzlich eine Pandemie, die nicht mehr bloß an den Rändern der Wahrnehmung sondern unter uns stattfindet. Die Orte des Schreckens heißen Bergamo, New York oder Straßburg. Was sich bisher nur in schaurigen Blockbustern Bahn gebrochen hat, scheint nun Wirklichkeit zu werden: die scheinbare massenhafte Ausrottung von Menschen „unsres Schlages“. Hunderttausende, ja Millionen wurden allein in Europa prophezeit. Die über Jahrzehnte durch Verdrängung aufgebaute Spannung entlädt sich plötzlich. Angst und Panik machen sich breit, die Medien tragen ihren unrühmlichen entscheidenden Teil dazu bei. Alles wird der Berichterstattung über das Virus untergeordnet, jeder Tote gezählt, nichts wird und darf in Relation zu sonstigen Zahlen gesetzt werden. Die moralische Überhöhung der Todeszähler ist gewaltig. Im staatlichen Fernsehen wird mit der Kamera ohne Scham auf am Boden liegende Erkrankte gehalten, Großaufnahmen mit Patient*innen mit Atemmasken scheinen auf einmal im Sinne der Aufklärung der Menschheit gerechtfertigt.
Diesen Kontrollverlust an Würde und Ratio machen sich die Regierungen zunutze, nachdem sie viel zu lange die Warnungen der Forscher*innen in den Wind geschlagen haben. Der österreichische Kanzler droht mit 100.000 Toten, ohne Berechnungsmodelle für diese These offenzulegen. Doch wirklich genau will es anfangs ohnehin niemand nehmen, kaum jemand fragt nach. Es herrscht wie nie zuvor ein Gefühl der nationalen Einheit: ein ideales Momentum, Grundrechte weiter zu minimieren und Schritte in die Hochsicherheitsgesellschaft zu planen. Der Deal ist einfach: Wir geben euch Sicherheit, schützen euch vor Unbill und Tod und wollen dafür, dass ihr eure Unkontrollierbarkeit und das Chaos des spontanen Lebens abgebt.
Den Tod ist nicht systemrelevant
Es ist eine Binsenweisheit, dass der Tod zum Leben gehört. Wir aber leben in einer Kultur, in der wir seine Existenz appetitlich minimiert haben. Er beschädigt nämlich das Fundament unserer kapitalisierten Gesellschaft. Wir haben von klein auf gelernt, in der Schule, im Fernsehen, auf Wahlplakaten, von unserem Chef und unserem Fitnesscoach: je schöner desto besser, je jünger desto besser, je erfolgreicher, desto besser, je mehr Wachstum desto besser, je mehr Follower desto besser. Jeder halbwegs reflektierte Mensch durchschaut natürlich die Einseitigkeit dieser Imperative. Man macht deshalb Yoga und Meditation und liest Ernährungsratgeber, um im nächsten Moment wieder auf die Likes auf Instagram zu schielen, sich im Job über das Lob für seine Kampagne zu freuen und sich der Alternativlosigkeit unserer auf Wachstum aufgebauten Wirtschaft mit Schulterzucken hinzugeben. Erfolg ist einfach angenehmer. Junge Menschen sind einfach schöner. Wachstum ist besser als Rezession. Kann man jetzt auch nicht ändern.
Den Tod, gilt es also zu vermeiden, auch die kleinen Tode im Alltag. Es ist verkehrt, wenn wir nicht funktionieren, wenn wir scheitern. Es ist verkehrt, wenn wir krank sind, wenn wir Fieber und Infektionen haben. Es ist verkehrt, wenn wir sterben. Man kann das zwar alles leider nicht komplett vermeiden, doch tausendfach brüllt es uns aus allen Endgeräten mittels Bilder schöner Körper, glatter Haut und glücklicher Gesichter an: der Tod ist falsch! Der Tod ist der Fehler im System.
Unser System kann diesen Fehler scheinbar beheben. im Konsum kann man sich Makellosigkeit und Glück erwerben. Unsere Politiker*innen kümmern sich darum, dass das Elend, der Schmutz und die Todesangst, die von den Rändern unseres Wahrnehmungshorizonts hereindringen wollen, ausgesperrt bleiben, dass diejenigen, die durch ihre Flucht anzeigen, dass das Leid sehr wohl Teil unserer Welt ist, nicht zu uns kommen. Durch die Eliminierung des Todes müssen wir notwendigerweise unsere Empathie eliminieren. Denn so wie wir uns nicht unsere Vergänglichkeit eingestehen, uns keinen Raum geben für Scheitern und Furcht, für Schmutz und Unfähigkeit, so können wir und wollen wir das Leid nicht bei anderen sehen.
Tod ist die Bedingung für Leben. Jede Trennung der beiden Aspekte des Seins ist sinnlos und macht uns furchtsam und neurotisch. Erst durch das Bewusstsein des Todes gelangen wir im Leben zu einer wirklichen Freiheit.
Es gab im Laufe der Geschichte Gesellschaften, die konnten besser mit dem Tod umgehen, andere weniger gut. Die Ausklammerung des Todes jedoch ist in unserer Leistungsgesellschaft systemrelevant. Unsere Angst vor Vergänglichkeit und Stille ist der Motor unserer Wirtschaft. Der Tod ist daher unser größtes Tabu, er muss möglichst unsichtbar bleiben. Sobald wir ihn zulassen, verändern wir die Perspektive auf alles, was unser Leben ausmacht. Wir gestatten uns dann auch wieder die kleinen Tode. Das Scheitern, die Fehler, die Leere, der Verlust sind nicht mehr bloß Makel, die es zu vermeiden gilt, sondern der produktive Ursprung für Veränderung und wirkliches Wachstum. Man wird unabhängig von Leistungsdruck und Ablenkung und gelangt so zu einer inneren Freiheit. Deshalb sind freie Menschen schädlich für unser Wirtschaftssystem. „Den Tod fürchten die am wenigsten, deren Leben den meisten Wert hat“, sagt Kant. Wessen Leben aber durch sich einen Wert hat, der muss sich weniger dazu kaufen. Unsere Politik, die im Zweifelsfall die Interessen der Wirtschaft vertritt, hat daran wenig Interesse und zieht Konsumkörper freien und mündigen Bürger*innen als Untertanen vor. Die Auseinandersetzung mit dem Tod könnte man in unser Erfolgs- und Leistungsgesellschaft mittlerweile schon als subversiven Akt bezeichnen.
Kauft weiter!
Unter diesem Betrachtungswinkel wird, klar, worin die Bedrohung durch das Corona-Virus liegt: die Menschen könnten begreifen, dass man Sterblichkeit nicht wegkonsumieren kann. Dass unser Gesundheitssystem Grenzen hat. Dass die Katastrophen auch bei uns stattfinden können. Um diesen Eindruck zu vermeiden ist der Politik jedes Mittel recht: Die Grundwerte werden ausgesetzt, das Leben zum Stillstand verdammt, eine nachhaltige Zerstörung der wirtschaftlichen Grundlagen gerade von Klein- und Einzelunternehmerinnen in Kauf genommen, genauso wie die Zerstörung von Kunst- und Kultur. Die Krise gibt den Regierungen die Möglichkeit, die Karten zu ihren eigenen Gunsten neu zu ordnen – Stichwort „neue Normalität“.
Doch genau hier liegt das Entscheidungsfenster. Es darf nicht darum gehen, dass alles wieder so wird, wie es mal war. In diesem sensiblen Moment der Geschichte müssen wir furchtlos und vehement einen Wandel einfordern. Dieser kann nur nachhaltig sein, wenn wir unser Selbstbild als Mensch und Gesellschaft in einem völlig anderen Kontext reflektieren. Dazu gehört, neben Wachstum auch Verfall zu akzeptieren, dazu gehört, den Tod in die Gesellschaft zu integrieren. Wir müssen uns also ehrlich und ohne zu verdrängen die Frage stellen: wie viel Risiko ist uns das Leben wert ist? Was erwarten wir von unserem Gesundheitssystem? Wie stärken wir eigenverantwortliches Handeln und gesellschaftlichen Zusammenhalt? Wie machen wir alte Menschen wieder zu einem sichtbaren und integrierten Teil in unsere Gesellschaft?
Wie wir leben und wie wir sterben wollen
Unter diesem Lichte werden Verordnungsaktionismus und Angstkampagnen zur Erziehung der Menschen obsolet. Denn viele Maßnahmen im Umgang mit Covid-19 wurden ohne Evidenz ihrer Sinnhaftigkeit durchgeführt oder haben die Krise erst verschärft. In Italien sind aufgrund der Alarmiertheit viele Menschen mit ersten Anzeichen sofort ins Krankenhaus gelaufen. Laut der Wissenschaftszeitschrift Stat+ haben sich 46 Prozent der italienischen Covid-19-Erkrankten erst dort angesteckt. Und während bisher bei einer schweren Krankheit ab einem gewissen Alter eine palliative Behandlung normal war, wurden aus diesen Menschen plötzlich Notfallpatienten gemacht. Statt im Kreise ihrer liebsten die letzten Tage zu verbringen, wurden sie von in Plastik vermummten Menschen mit Maßnahmen versorgt, die das Leben mittels qualvoller Prozedur unter dem Risiko von Folgeschäden manchmal nur kurz verlängern.
Was uns in der Corona-Krise wirklich verstört, sind nicht die Zahlen der Toten, sondern die Umstände, wie die Menschen sterben. Es sind die Bilder von Patienten mit Atemmasken, umgeben von anonymen Schutzkleidungsträgern. Es sind die Bilder der Särge, die sich stapeln und in Notgräbern beerdigt werden. Es ist der Gedanke an ein Ende ohne Liebe und Abschied, an einen einsamen Tod. Es ist der Verlust des Ritus, der uns Wirkmächtigkeit und Kontrolle über das Leben und den Tod verspricht. Das führt zu einem Gefühl von Machtlosigkeit und Würdelosigkeit. Es braucht aber eine Risikoabschätzung, die die Würde in den Mittelpunkt stellt und nicht die bloße Vermeidung des Todes. Wir sollten, statt bange zu fragen „wann sind wie viele gestorben?“, eher bange fragen „wie sind sie gestorben und welches Leben haben sie gelebt?“
Ein anderes Menschenbild bedeutet eine andere Einbindung von Vergänglichkeit in unser Leben. Es bedeutet dadurch auch eine ganz andere Einbindung der Alten in unsere Gesellschaft. Dann kommen wir höchstwahrscheinlich nicht auf so absurde Ideen, Alte bis zur Entwicklung eines Impfstoffes zu isolieren, damit sie möglichst lange möglichst sicher zu leben. In Frankreich verweigerten manche Menschen in Pflegeheimen die Nahungsaufnahme, weil sie lieber sterben wollten als dieses Unglück zu ertragen. Wir sollten den Alten zugestehen, dass es an ihnen ist, zwischen Risiko und Leben abzuwägen. Wir würden dann aufhören, ihnen Angst machen, indem wir den Tod möglichst unmenschlich gestalten. Wir würden aufhören, sie zu beschimpfen, wenn sie selbst einkaufen gehen wollen oder ihnen verbieten, ihre Enkelkinder zu umarmen. Und wenn sie sich aus eigenem Wunsch vor einer Ansteckung maximal schützen wollen, weil sie Angst haben, dann müssen wir das ebenso akzeptieren und uns um sie kümmern, dass sie gut versorgt und nicht einsam sind.
Selbstermächtigung statt Angst
Eine wirklich liberale Gesellschaft wird niemals eine Hochsicherheitsgesellschaft sein. Doch sie erlaubt, selbstbestimmt zu leben und selbstbestimmt zu sterben. Deshalb sollten wir die Reglementierungen und Einschnitte in unsere Handlungsfähigkeit hinterfragen. Denn es ist gerade jetzt, wo die Coronakrise die Schattenseiten unseres Systems offen legt, umso notwendiger, dass wir handlungsfähig bleiben, auch um den Menschen zu helfen, die gerade in größter Not von uns in Stich gelassen werden: in den Kriegsgebieten, den Flüchtlingslagern, in den Folterkellern, in den Arbeitslagern und den überfüllten Slums.
Furchtsam abzuwarten ist daher sicher nicht das Gebot der Stunde. Denn Angst schwächt nicht nur das Immunsystem, sie schwächt uns auch als Gesellschaft und zerstört die Solidarität untereinander. Angst heißt Vereinzelung. Das kommt den Mächtigen gelegen. Teile und herrsche. Erst ein offener und souveräner Umgang mit dem Tod kann die Vereinzelung in unserer Gesellschaft durchbrechen. Die Natur hilft uns, die Angst zu besiegen. Sie zeigt uns, dass nichts wirklich vergeht sondern sich alles wandelt. Darin liegt vielleicht überhaupt der Schlüssel, die kommenden wirklich großen Herausforderungen des Klimawandels zu bewältigen. Dass wir aufhören, bloß dem Wachstum zu huldigen, wieder von der Natur lernen und zu einem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel gelangen, um das Bündel an Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, in eine zukunftsfähige Lebensweise zu transformieren. Dazu braucht es Mut, Initiative und Selbstermächtigung. Und die Freiheit des Denkens.